Das Ende der Geschichte?

Das Ende der Geschichte ist eine These, die der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 formulierte. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sah er eine Ära heraufdämmern, die nicht mehr durch den Antagonismus politischer Blöcke, sondern durch einen weltumspannenden demokratischen Liberalismus gekennzeichnet wäre und in der ein nun mehr selbst historisch gewordener Geschichtsbegriff keine Rolle mehr spielen würde. Diese These forderte energischen Widerspruch heraus, nicht zuletzt durch den Philosophen Jacques Derrida, der mit der Veröffentlichung von Marx Gespenstern reagierte – ein Buch, in dem die These vertreten wird, die Zeit sei aus den Fugen geraten und die Gegenwart werde von den Gespenstern ihrer politischen Vergangenheit heimgesucht.

Auch in der Musikgeschichte lassen sich verschiedene Endpunkte von Erzählungen des Fortschritts entdecken. Die musikalischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben ihr Mindesthaltbarkeitsdatum seit langem überschritten und der populären Musik ist das große Zukunftsversprechen abhanden gekommen, das über Jahrzehnte als ihr Motor diente. Auch die Musik wird von den Gespenstern ihrer Vergangenheit heimgesucht, wofür Mark Fisher und Simon Reynolds den bei Derrida entlehnten Begriff der Hauntology [1] geprägt haben. Noise ist zugleich Agent und Symptom dieser Entwicklung. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hat dieses sperrige und subkulturelle Genre die meisten der von den klassischen Avantgarden entwickelten Techniken in sich aufgenommen und zu einer neuen Form synthetisiert – ein Spiel mit unkontrolliertem Zufall und Rauschen, extremen Formen elektronisch erzeugter Klänge, freie Improvisation, Verwendung a-musikalischer Klangerzeugung, Störgeräuschen, Verzerrungen und Feedbacks.

Noise ist an Schnittstellen zur populären Musik entstanden, bewegt sich an ihren Rändern, inspiriert neue Formen, wird heute selbst von seiner Vergangenheit heimgesucht und zerstreut sich zugleich in eine Unzahl verschiedener Zukunftsentwürfe.

Weder das programmatische Ende der Geschichte, noch die Heimsuchung durch die eigene Vergangenheit, sind an Noise spurlos vorbeigegangen. Das Wort steht heute für eine unüberschaubare Vielfalt von ausdifferenzierten künstlerischen Positionen und Subgenres. Diese Bandbreite bildet sich im Programm des anvisierten Festivals ab. Im verkleinerten Maßstab eines Festivals soll Noisexistance – in der Art einer Versuchsanordnung – zeigen, dass die Zeit (im Sinne eines linearen Fortschritts) tatsächlich aus den Fugen geraten ist, dass die aktuelle politische und ästhetische Praxis von den Gespenstern ihrer Vergangenheit heimgesucht wird und dass es in dieser Situation darauf ankommt, sich zugleich diesen Gespenstern zu stellen und nach neuen Wegen zu forschen. In Vorträgen von Cécile Malaspina und Marie Thompson werden aktuelle Theorien verhandelt, in denen die produktiven Aspekte von Noise in den Fokus genommen werden. Viele der auf Noise bezogenen Subgenres sind männlich dominiert, es ist für Noisexistance deshalb ein Anliegen, feministischen und queeren Positionen ein Forum zu geben.


Mark Fisher: The Slow Cancellation Of The Future (Auszug dem Buch Ghosts Of My Life auf The Quietus)

Simon Reynolds: Haunted Audio, a/k/a Society Of The Spectral: Ghost Box, Mordant Music and Hauntology, The Wire, November 2006

[1]   Im französischen Original Hantologie. Ein Kunstwort aus ‚to haunt‘ – Heimsuchung und ‚ontology‘ – die Lehre vom sein. Das Sein wird von den Gespenstern seiner eigenen Vergangenheit heimgesucht.

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