Vortrag am 26.06.2016 in der Spedition, Bremen
Ich will mit einer Szene beginnen, die mir vor einiger Zeit begegnete, als ich den Hamburger Hauptbahnhof aufsuchte, um mir dort meinen täglichen Vorrat an Zigaretten der Marke Gauloise abzuholen. Da standen auf dem Vorplatz – buchstäblich im Freien – an die 30 bis 50 rot bespannte Liegestühle, in Reih und Glied angeordnet, auf deren Stoff die Hamburger Sparkasse die frohe Botschaft hatte drucken lassen, so einfach könne Vorsorge sein. Und während sich das rote Tuch der Liegestühle sanft im Wind wellte – zu jenem notorischen Barockmusik-Gedudel, mit dem Psychologen der Öffentlichen Ordnung den Abschaum von öffentlichen Plätzen fernzuhalten suchen – , beschwor die Installation der Sparkasse etwas, was die Finanzmärkte mit einigem Stolz auch ihre „Produkte“ nennen: Versicherungstechniken nämlich, die uns zu Umwegen einer Ersparnis einladen, um unsere „Vorsorge fürs Alter“ sicherzustellen. Im Präfix „Vor-“ der „Vor-Sorge“ klingt diese Antizipation ja bereits an, als Sorge „vor“ aller Sorge, als sich überholende Sorge sozusagen oder als Sorge, die sich selbst immer voraus ist. Frei Haus bekommt man so die Einsicht, dass es sich um Technologien der Zeit handelt. In dürren Worten umschreibt sich so, womit man den Bürgern im Interesse ihrer Altersversorgung in den Ohren liegt. Heute in solche „Produkte“ zu investieren, um später von der Rendite zehren zu können, die sie angeblich abwerfen, beschreibt als Vor-Sorge einen Übergriff über die Zeit, der die apathische Reglosigkeit in Hängematten anpreist wie die eines Todes. Unversehens wurden die Liegestühle damit zum Signifikanten einer Erzählung, in der sie wie eine Gestalt gewordene Metapher fungierten. Metaphern spielen ja, wie jedermann weiß, mit einer „übertragenen Bedeutung“. Bekanntlich handelt die Sparkasse ja nicht mit Liegestühlen, sondern mit Zukunftsversprechen, weshalb die Freizeit-Accessoires hier auch nicht wörtlich genommen werden wollten. Dereinst, so suggerierten sie, werde man sich im Liegestuhl reinen Genusses ergehen, um für gegenwärtige Entsagungen reich entschädigt zu werden. So machte sich anschaulich, so lud sich am Liegestuhl mit Assoziationen auf, was als ideale Bedeutung ja nur langweilig klänge. So jedenfalls das Kalkül der Auftraggeber. An diesem Nachmittag jedoch ging es ins Leere oder entlud sich in einer Art Kurzschluss. Denn statt jener, an die sich die frohe Botschaft hatte adressieren sollen, aalten sich in den Liegestühlen der Sparkasse die Junkies, die Stricher, die Obdachlosen und all die anderen Penner, die für gewöhnlich den Bahnhofsvorplatz bevölkern und offenbar froh waren, an diesem Tag mit ihren Hunden und Flachmännern mal Reisekatalog spielen zu können. Zunächst zögerte ich, denn es hätte sich ja auch um eine „künstlerische Aktion“ handeln können, was sich hier exponierte. Doch als sich verifizieren ließ, dass es tatsächlich die Haspa war, die auf dem Bahnhofsvorplatz tätig geworden war, wusste ich wenigstens, weshalb es um die Kunst steht, wie es um sie steht – nämlich nicht zum Besten. Ohne dass ein Künstler noch Hand hätte anlegen müssen, vollzog sich in der Inszenierung des Finanzinstituts eine Aufteilung des Sinnlichen, dessen Elemente einander einigermaßen schroff konfrontierten: hier die Sinnlichkeit eines Signifikanten, der die Reinheit kommenden Genusses metaphorisch in Aussicht stellte – und dort die Penner, die den Liegestuhl völlig nicht-metaphorisch beim Wort nahmen und sich in ihm niedergelassen hatten. So wurde die Erzählung der Sparkasse einigermaßen rüde von jenen unterbrochen, die zwar kaum in den Genuss der versprochenen Vorsorge kommen dürften, dafür aber das nächstliegende taten: sich im Environment irgendwie einzurichten, zumindest bis die Bullen gekommen sein werden. Und tatsächlich – was hätte näherliegen können? Wo sich jene, die einen guten Tag haben, sofern sie den heutigen irgendwie hinter sich bringen können, derart im Versprechen eines Zeitgewinns niederlassen, den zu erwirtschaften den Begriff der „Vorsorge“ ja ausmacht, wird die Erzählung der Vorsorge wie von Unterbrechungen heimgesucht, die ihre Bedeutung nachhaltig verunreinigten. Eine solche Heimsuchung kristallisierte sich hier wie in einem Denkbild. Sie trug der Bedeutungsübertragung ein unübersehbares wie unüberhörbares Bild- und Tonrauschen ein, das die versprochene Zukunft im Nu implodieren ließ. Ein situativer oder parasitärer Gebrauch griff da im Ensemble der Sparkasse Platz, die vielleicht von einem Missbrauch gesprochen hätte. Vielleicht war die Installation ja auch deshalb am nächsten Tag vom Bahnhofsvorplatz wieder verschwunden. Wo immer eine Sphäre reiner Bedeutung konstruiert wird, da muss nämlich alles getan werden, um ihrer Verunreinigung zuvorzukommen. Was immer als Schmutz, als Dreck, als Lärm, als Geräusch oder Rauschen in sie eindringen könnte, wird als unstatthafter Einbruch einer Materialität ausgeschlossen. Vielfach sind die Rauschfilter, die einen solchen Ausschluss garantieren sollen. Wo sich rebellierende Gruppen zusammenfinden, spricht die Polizei von „Störern“: Tiefgreifend affizieren sie die Bedeutung, die von Straßen und Plätze übermittelt werden soll, und lassen deren Semantik im Lärm des Aufruhrs untergehen. Geräusche stören ein Konzert, einen Vortrag, eine theatralische Aufführung. Informationstheoretiker kontrollieren den Abstand von Rauschen und Signal, um die eindeutige Bedeutung einer übermittelten Botschaft gewährleisten zu können, und sorgsam wachen Toningenieure darüber, dass eine Stimmaufnahme im Rundfunkstudio nicht vom Atem, von einem Brechen der Stimme, von Heiserkeit, einem Sich-Räuspern oder gar einem unwillkürlichen Schmatzen heimgesucht wird. Das wird dann geschnitten oder noch mal aufgenommen. Der erregte Atem zweier Liebender ist ebenso ohne jegliche Bedeutung – oder er signalisiert nur eine einzige: dass hier die Grenze zum Animalischen überschritten werde, über die Techniken der Kontrolle und Selbstkontrolle zu wachen haben, wie ja auch gewisse Beiträge zur Diskussion über Pornografie und Prostitution neuerdings wieder geltend machen. Überall drohen Geräusch und Rauschen, Lärm und Auflösung des Signal-Rauschabstands jene Sphäre reiner, übertragener Bedeutung zu zerstören, die als ungetrübtes In-Sich-Ruhen idealer Bedeutung hergestellt und garantiert wird. Und damit die „Menschlichkeit des Menschen“. Denn selbst wo dieser Einbruch nicht schon als Aufruhr einbricht, geht der Dreck, das Geräusch, das Rauschen zumindest mit einer unüberhörbaren Drohung einher: dass sich die Systeme der Bedeutung in Frage oder zur Disposition stellen lassen. Denn was anderes als jene Szene vom Bahnhofsvorplatz erleben wir heute in jener Abfolge von Eklats, die als „Griechenland-Krise“ traurige Berühmtheit erlangt haben, sozusagen auf großer Bühne? Wo die Finanzinstitutionen Kredite oder Bürgschaften gewähren, die ihr Kalkül der Zeit in monströse Dimensionen versetzt haben, machen die von diesem Kalkül immer schon Ausgeschlossenen ihren eigenen Gebrauch von den Gegebenheiten, um sich wenigstens über den Tag zu retten, wofür sie freilich folgerichtig als faule „Penner“ gebrandmarkt werden.
Denn selbst wo dieser Einbruch nicht schon als Aufruhr einbricht, geht der Dreck, das Geräusch, das Rauschen zumindest mit einer unüberhörbaren Drohung einher: dass sich die Systeme der Bedeutung in Frage oder zur Disposition stellen lassen.
In diesem Sinn nun war diese Opposition von Lärm und Bedeutung stets tragend. Sie hat nicht nur das okzidentale Denken des Sprechens, der Sprache und des Zeichens im allgemeinen beherrscht. Von Anfang an hat sie auch Machtbegriffe fundiert, die mit ihr enge Beziehungen unterhielten. Was dem Herrensignifikanten entgeht, kehrt als Geräusch, als Rauschen oder Lärm in ihm wieder, der deshalb umso nachdrücklicher ausgeschlossen und unterdrückt werden muss. „Die Natur“, so heißt es in der Politik des Aristoteles, „macht, wie wir sagen, nichts vergeblich. Nun ist aber einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache begabt. Die Stimme ist das Zeichen für Schmerz und Lust und darum auch den anderen Sinneswesen verliehen, indem ihre Natur so weit gelangt ist, dass sie Schmerz und Lust empfinden und beides einander zu erkennen geben. Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (1) Derart partizipiert der Mensch zwar am Tierischen, doch nur, um sich von ihm zu unterscheiden. Die Sprache ist vom animalischen Lärm durch einen Abgrund geschieden. Eine Stimme, die Schmerz und Lust mitteilen kann, diese Stimme bloßen Lärms ist Menschen und Tieren zwar gleichermaßen verliehen. Doch weil diese Stimme der unmittelbaren Sinnlichkeit verhaftet bleibt, stiftet sie weder Menschlichkeit noch Gemeinschaft. Schreie des Schmerzes, Schreie der Lust mögen zwar geeignet sein, ihren Urhebern ihre Animalität zu erkennen zu geben Doch bleibt dieses Reich der Anzeichen wie durch einen Abgrund vom wahrhaft menschlichen Wort, von wahrhaft menschlicher Sprache geschieden. Privilegiert ist die menschliche Stimme insofern, als sich der Sprechende in ihr auf eine Innerlichkeit zurückbeziehen und einer Ökonomie der Selbstgegenwart unterstellen kann, die jene der vernünftigen Seele ist. In diesem Ausdrucksvermögen reiner Innerlichkeit erweist sie sich. Noch einmal Aristoteles: „Die so weit voneinander abstehen, wie die Seele vom Leibe und der Mensch vom Tiere – und das ist bei allen denen der Fall, deren Aufgabe im Gebrauch ihrer Leibeskräfte besteht und bei denen das die höchste Leistung ist – , die also sind Sklaven von Natur, und es ist ihnen besser, sich in dieser Art von Dienstbarkeit zu befinden, ganz wie bei den eben erwähnten Dingen. Denn der ist von Natur ein Sklave, der eines anderen sein kann – weshalb er auch eines anderen ist – und der an der Vernunft nur insoweit teil hat, dass er sie in anderen vernimmt, sie aber selbst nicht hat. Die anderen Sinnenwesen vernehmen nämlich ihre Stimme nicht, sondern lassen sich ausschließlich durch Gefühlseindrücke und sinnliche Empfindungen regieren und leiten. Aber auch die Dienste, die man von beiden erfährt, sind nur wenig verschieden; beide, Sklaven und Haustiere, verhelfen uns zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse.“ (2)
Wo immer also Sklaven, Weiber und Kinder das Wort zu ergreifen suchen, da bleibt diese Äußerung vom Lärm gezeichnet, vom Geräusch, vom Rauschen, in dem sich nicht mehr artikulieren kann als ein Anzeichen für Schmerz oder Lust – nichts hingegen, das zum Herrschen qualifizieren könnte.
Diese Welt des Geräuschs, die von Lauten des Schmerzes und der Lust, Akustiken der Sinnlichkeit und des Empfindens erfüllt ist, bleibt dem lógos immer äußerlich. Von Natur aus ist derjenige Sklave, der des lógos nur teilhaftig wird, sofern er ihn in anderen vernimmt, die ihm befehlen. Die eigene Stimme zu hören bleibt ihm versagt. Noch einmal Aristoteles: „In ihr ist das eine von Natur ein Herrschendes, das andere ein Dienendes, und beider Tugenden bezeichnen wir als verschieden, indem das eine vernunftbegabt, das andere aber ohne Vernunft ist. Also sieht man, dass es sich auf dieselbe Weise auch in den anderen Fällen verhält, so dass es von Natur mehrere Klassen von Herrschenden und Dienenden gibt. Denn auf je andere Weise herrscht das Freie über das, was Sklave ist, und herrscht das Männliche über das Weibliche und herrscht der Mann über das Kind. Und in ihnen allen finden die Seelenteile sich zwar, aber sie finden sich mit Unterschied. Der Sklave hat das Vermögen zu überlegen überhaupt nicht, das Weibliche hat es zwar, aber ohne die erforderliche Entschiedenheit, und das Kind hat es auch, aber noch unentwickelt.“ (3) Immerhin wird hier die Herausforderung absehbar, die sich bei Jacques Rancière abzeichnet, wenn er die Frage eines politischen „Unvernehmens“ aus den Beziehungen von Sprache und Lärm auftauchen lässt. (4) Denn an diesen Beziehungen oder in ihnen entscheidet sich, was im politischen Universum Bedeutung oder argumentatives Gewicht annehmen kann. Die Penner am Hauptbahnhof zumindest disqualifizierten sich hier wie von selbst. Selbst wo sie nicht lärmten, sondern schweigend schaukelten, verunreinigten sie die Botschaft der Liegestühle mit einem Rauschen, das von dieser Botschaft nicht absorbiert werden konnte Und vielleicht lässt sich an solchen Bruchflächen die Tragweite von Rancières Argument ermessen, dass die Ästhetik dem Politischen vorausgeht. Was nämlich bedeutet es, zu sprechen? Was wird zur Ordnung einer Sprache zugelassen, in der das Politische verhandelt wird? „Das Problem“, so schreibt Rancière, „ist nämlich die Frage, ob die Subjekte, die im Gespräch gezählt werden, ‚sind’ oder ‚nicht sind’, ob sie sprechen oder Lärm machen.“ (5) Erkennbar betrifft dies „aisthetische“ Probleme im Innersten, nicht zuletzt dort, wo sie sich mit der Frage des Aufruhrs, der Revolte kreuzen. Wo immer „aisthetisch“ interveniert wird, da geht es um die Befragung und Bearbeitung von Grenzen, die den Lärm vom Sprechen, das Sinnliche vom Nicht-Sinnlichen, das Sagbare vom Unsagbaren, das Sichtbare vom Nicht-Sichtbaren, das Körperliche vom Nicht-Körperlichen, Vernunft von Unvernunft, lógos von alogía absetzen und unterscheiden. Denn dies zeichnet die Konflikte vor, denen der lógos ausgesetzt sein wird. Die alogía beschreibt, was die Maße des lógos übersteigt, was diesen lógos einer Maßlosigkeit aussetzt, die ihn verwüsten könnte. Álogos ist das Geräusch, der Lärm. Und als álogoi situieren sich jene, die als bloße Sinnenwesen bloßem Lärm verhaftet sind. Wo immer also Sklaven, Weiber und Kinder das Wort zu ergreifen suchen, da bleibt diese Äußerung vom Lärm gezeichnet, vom Geräusch, vom Rauschen, in dem sich nicht mehr artikulieren kann als ein Anzeichen für Schmerz oder Lust – nichts hingegen, das zum Herrschen qualifizieren könnte. Rancières Frage nach der aísthesis zeichnet auf diese Weise den Streit vor, der sich zwischen denen abspielt, die das Privileg des Sprechens genießen, und jenen, die von ihm ausgeschlossen bleiben. In den Streiks des 19. Jahrhunderts, so schreibt er, setzen die Arbeiter deshalb alles daran, dass sie „gerade als vernünftig sprechende Wesen streiken, dass die Tat, gemeinsam die Arbeit niederzulegen, nicht ein Lärm, eine gewalttätige Reaktion auf eine unangenehme Situation ist, sondern dass sie einen Logos ausdrückt, der nicht einfach der Zustand eines Kräfteverhältnisses ist, sondern eine Demonstration ihres Rechts und des Rechten bildet, die von der anderen Seite verstanden werden kann.“ (6) In gewisser Weise geht es bei jedem Aufruhr insofern zunächst um ein Zum-Sklaven-Werden, Zur-Frau-Werden, Zum-Kind-Werden. Und wie ich gern zeigen möchte, ist dies ist von einer Selbstinszenierung als „Opfer“ weit entfernt. Denn stets zeichnet sich das „Opfer“ dadurch aus, um Anerkennung zu buhlen. Der Schaden, der ihm zugefügt wurde, besteht darin, aus einer Ordnung verantwortlichen Sprechens über das Wahre und das Gerechte ausgeschlossen worden zu sein. Seine Stimme fand in dieser Sphäre kein Gehör. Und inständig dringt sie deshalb darauf, zu dieser Sphäre Zutritt zu finden, als Sprechender, Sprechende, Sprechendes anerkannt und aufgenommen zu werden. Die Revolten, die sich derart Ausdruck verleihen, tasten die Ordnung der Zeichen, das Regime der Bedeutung also keineswegs an. Sie bestätigen es. Die Streiks, so Rancière, werden nicht nur um Lohnerhöhungen geführt. Sie werden darum geführt, nicht länger als Lärm ausgeschlossen zu werden, sondern in die Ordnung des lógos aufgenommen zu werden. Aber deshalb bleiben sie auch von einem irreduziblen „Als-Ob“ charakterisiert, das Rancière auch herausgearbeitet. „Das Subjekt Arbeiter“, schreibt er, „das sich dabei als Sprecher zählen lässt, muss so tun, als ob die Szene existierte, als ob es eine gemeinsame Welt der Argumentation gäbe, was höchst vernünftig und höchst unvernünftig, höchst weise und entschieden untergrabend ist, denn diese Welt existiert nicht. Die Streiks dieser Zeit erhalten ihre einzigartige diskursive Struktur von der Ausreizung dieses Paradoxes: sie sind erpicht darauf zu zeigen, dass die Arbeiter gerade als vernünftig sprechende Wesen streiken, dass die Tat, gemeinsam die Arbeit niederzulegen, nicht ein Lärm, eine gewalttätige Reaktion auf eine unangenehme Situation ist, sondern dass sie einen Logos ausdrückt, der nicht einfach der Zustand eines Kräfteverhältnisses ist, sondern eine Demonstration ihres Rechts und des Rechten bildet, die von der anderen Partei verstanden werden kann.“ (7) Die Zweideutigkeit, in der sich hier höchste Vernunft und höchste Unvernunft kreuzen, ist aber nicht nur eine Zweideutigkeit der Streiks, nicht einmal nur eine Zweideutigkeit in Rancières Argumentation. Sie betrifft die Logik der Kämpfe selbst. Von Anfang bewegen sie sich in dieser Sphäre eines „Als-Ob“, die sich über einer gegebenen semiotischen Ordnung erhebt und penibel darauf bedacht ist, deren innere Verfasstheit weder zu befragen noch anzugreifen. Seit Habermas nennt man dieses normierte Gehäuse auch „kommunikative Rationalität“. Den Herren beweisen zu wollen, dass man kein lärmendes Tier, sondern ein sprechendes Wesen ist, ist deren Logik nämlich im gleichen Maß verfallen, in dem es der Struktur einer herrschenden Semiotik unterworfen bleibt. Erkennt an, so der Appell dieser Streiks an die Herren, dass wir uns als Sprechende in der Ordnung des lógos bewegen, erkennt an, dass ihr einen verhängnisvollen Fehler begeht, wenn ihr uns dem Animalischen zuordnet! Seht her, hört her, wir sind keine Tiere, die durch tierischen Lärm diskreditiert sind! Erkennt an, dass wir unsererseits die semiotische Ordnung vorbehaltlos anerkennen, die ihr errichtet habt, um uns in ihr in einem Unrechtsakt, wie durch einen Missgriff, deplatziert, weil als Tiere wiederzufinden! Unschwer wird man in dieser argumentativen Struktur einen genuinen Sozialdemokratismus erkennen können. Er überschattet alle Begriffe einer „Emanzipation“, die sich im Verlangen nach „Anerkennung“ und „Gleichberechtigung“ situiert. Immer bewegt sie sich in einer Struktur des Mangels, der fehlenden Teilhabe an der sprachlichen Ordnung von Herren. Umso nachdrücklicher will sie sich deshalb einen allgemeinen Begriff „des Menschen“ sichern, der sich und ebenso sie wie durch einen Abgrund vom Tierischen abgrenzt. Nur so ließe sich Anteil am allgemein „Menschlichen“ nehmen. Nicht von ungefähr also die späte Vermutung Derridas, die Verfemung des Tieres, des animalischen Lärms aus der Ordnung menschlicher Bestimmungen könne sich als jener Ausschluss herausstellen, der die Mächte des Okzidents tiefgreifend gezeichnet hat und noch den Ordnungen des Begehrens, der Ökonomie und der Macht vorangeht. Was Derrida den „Phonozentrismus“ nannte, der alle Bedeutung um die lebendige, sich selbst präsente Stimme gruppierte, um an ihr Vernunft und Unvernunft zu unterscheiden, gehört zu den bestimmenden Dispositiven dieser Kultur. Der Laut, dieses materielle Element, gehört der Sprache nämlich nicht an, wie auch de Saussure den aristotelischen Diskurs gegen den animalischen Lärm im Cours generale aufgreift und fortsetzt. Dies, so setzt de Saussure hinzu, gelte im übrigen für alle Ökonomien. Alle konventionellen Werte, so schreibt er, hätten es „an sich, dass sie nicht zusammenfallen mit dem greifbaren Gegenstand, der ihnen als Stütze dient. So ist es nicht das Metall eines Geldstücks, das seinen Wert bestimmt; es ist mehr oder weniger wert in der oder jener Prägung, mehr oder weniger diesseits oder jenseits einer politischen Grenze, und das gilt erst recht von dem bezeichnenden Element in der Sprache; seinem Wesen nach ist es keineswegs lautlich, es ist unkörperlich, es ist gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die Verschiedenheiten, welche sein Lautbild von allen anderen trennen.“ (8) Unlautlich, unkörperlich, ohne stoffliche Substanz: jede Spur einer Genealogie des Zeichens wird auf diese Weise ausgelöscht, jeder Lärm des Materiellen, jeder Lärm des Realen getilgt. Und doch, wie alles, was derart verworfen wird, kehrt es als Rauschen des Realen, als Lärm des Nicht-Ökonomisierbaren nicht nur an den Rändern dieser Ökonomien wieder. Es bricht in ihrem Innerem auf. Und hier zeichnet sich ab, was einen Sozialdemokratismus elementar bedroht, der sich im „Als-Ob“ gleichberechtigter Sprecher zu bewegen sucht. Nicht weniger zeichnet sich ab, was gegen Hamburger Penner in Liegestühlen oder renitente Griechen dann den Ruf nach der Polizei der Straßen und des Diskurses laut werden lässt. Der animalische Lärm, den dieser Abschaum veranstaltet, kommt nämlich nicht „von außen“. In ihm wiederholt sich jenes Rauschen, das als Noise überall einsetzt, wo sich signifikante Ordnungen des Werts, des Begehrens oder idealer sprachlicher Bedeutung installieren. Der Lärm der Sklaven, der Frauen und Kinder erinnert an das, was aus diesen Ordnungen als Reales exkommuniziert wurde, um desto bedrohlicher in ihnen wiederzukehren. Überall nämlich sind es Signifikanten, die eingeführt werden, um die Kohärenz solcher Ordnungen abzuschließen und sicherzustellen. Sie fungieren als Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung überhaupt, die in diesen Ordnungen herrscht und zirkuliert. Anders gesagt: indem sie derart ganze Bedeutungssphären herstellen, erfüllen diese Signifikanten eine transzendentale Funktion. Überall konstituieren sich diese Ordnungen also um transzendentale Signifikanten, die auf ein reines, ideales, also ebenso transzendentales Signifikat verweisen, mit dem sie zusammenzufallen. So installiert sich das Geldsymbol als transzendentaler Signifikant, der die Bezirke der Ökonomie einhegt und sicherstellt. Er ermöglicht ihre Zirkulation und schließt sie im Phantasma eines „reinen Werts“ ein, das sich im Geldwert substituiert und vorstellig macht. So installiert sich der phallische Signifikant in der Ordnung des Begehrens, um sie zirkulieren zu lassen und als Bedingung ihrer Möglichkeit in sich einzuschließen. Und so situieren sich die Ordnungen des Sprechens um jenen transzendentalen Signifikanten des lebendig gesprochenen Worts, das mit dem Signifikat einer reinen, von keiner Materialität affizierten und deshalb sich selbst transparenten Seele zusammenfällt.
Nicht weniger kündigt sich im Lärm, im Rauschen, im Noise an als eine Transversale, die das zirkulär abgeschlossene Gefüge der semiotischen Ordnungen selbst fraglich macht und zur Disposition stellt.
Alle diese Ordnungen können sich derart aber nur in sich einschließen, weil sie selbst aus einer zirkulären Bewegung hervorgehen. Folgt man beispielsweise de Saussure, so ist ein Sprechen nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich der Sprechende in einer gegebenen Sprache bewegt, die ihm vorgängig ist. Doch um wiederum die Möglichkeit dieser Sprache zu thematisieren, sieht sich de Saussure in einem zweiten Schritt genötigt, ihr ebenso ein „erstes Sprechen“ voranzuschicken, das die Sprache wie in einem göttlichen Akt hervorgebracht oder eingesetzt haben soll. In anderen Worten: überall wird ein Element aus dem Diskurs herausgelöst, das als dessen stiftendes Moment eingesetzt wird, um seine Kohärenz transzendental sicherzustellen und zu befähigen, über die Reinheit zirkulierender Bedeutungen zu wachen. Der Schmerzenslaut der Sklaven, das Geplapper der Frauen, das infantische Lallen der Kinder bleibt als animalischer Lärm aus ihnen verbannt, der die Reinheit des Signifikats nur verwüsten könnte. Und doch, die animalischen Geräusche durchqueren die Ordnungen dieser Reinheit umso unabweisbarer wie jenes Echo, das an ein stets Vergessenes erinnert, um es als Unvergessliches zu markieren, das stets im Kommen ist und nach Gerechtigkeit verlangt. Dies allerdings sprengt alles, was sich von einem Sozialdemokratismus fassen ließe, wenn er sich Zutritt zur Welt der Herrensignifikanten erbittet. Nicht weniger kündigt sich im Lärm, im Rauschen, im Noise an als eine Transversale, die das zirkulär abgeschlossene Gefüge der semiotischen Ordnungen selbst fraglich macht und zur Disposition stellt. Nach nicht weniger verlangt diese Ent-Stellung deshalb als nach Interventionen einer aísthesis, die den Lärm, das Geräusch in den Ordnungen reiner Bedeutungen und reinen Werts forciert, affirmiert und zum Ausbruch bringt, wie schweigsam immer er sich vollziehen mag. Denn aller Aufruhr ist affirmativ. Und sei es der eines einfachen „Mmmmmmmm“, von dem Jean-Luc Nancy sagt, es sei „gleich dem Indistinkten, in dem der Begriff seine eigene Differenzierung verliert, in welcher er ganz und gar besteht, gleich, ja, der Spur, die in der Luft oder auf dem Papier der Rückzug des Begriffes lässt, durch ein Erlöschen der Differenz, das keine Identität schafft, sondern das Dröhnen, Summen, Grummeln und Knurren des Konsonanten, der allein klingt und keinerlei Stimme artikuliert. Mmmmmmmmm klingt vor der Stimme, in der Kehle, kaum vom Grund des Mundes her an die Lippen rührend, ohne Zungenbewegung, schlichte Luftsäule, die aus der Brust in die Klanghöhle getrieben wird, die Höhle des Mundes, der nicht spricht. Weder Stimme noch Schrift noch Wort noch Schrei, sondern transzendentales Rauschen, Bedingung jedes Wortes und jeder Stille, glottische Archie, in der ich röchele und schreie, Agonie und Geburt, ich summe und grolle, Lied, Lust und Leid, regloses Wort, mumifiziertes Wort, Monotonie, in der sich die Polyphonie, die vom Grunde des Bauches aufsteigt, auflöst und weitet, ein Mysterium an Emotion, die substanzielle Union von Seele und Körper, von Körper und ammmmmm.“ (9)
Es geht bei diesem Aufruhr also keineswegs um eine Rehabilitation des Sinnlichen, um einen therapeutischen Ausgleich für Kopflastigkeiten jedweder Art etwa. Es geht um ein transzendentales Rauschen, diese Bedingung jedes Wortes und jeder Stille. Es geht um eine Ex-Position dessen, was als Bedeutung ebenso zur Dis-Position gestellt ist wie als Sinnlichkeit. Eine solche aísthesis situiert nämlich selbst erst, was dann als „sinnlich“ gelten mag. Sie entziffert sich als Spur eines Einschnitts, der das Sinnliche aus einer Differenz erst hervortreten lässt, die im tierischen Lärm insistiert. In ihr kündigt sich deshalb jeder Aufruhr an oder müsste sich ankündigen, um einer zu sein. Zum Sklaven werden, zur Frau werden, zum Kind werden, zum Tier werden… Eben darin bestünde die affirmative Kraft dieses Aufruhrs. Schon im Gebrauchswert der Ökonomie steckt das Nutzlose, jenes Rauschen des Realen vor jedem Nutzen, ohne das er nicht sein könnte. Oder das phallische Begehren wird von einem weiblichen Genießen durchquert, das unabschließbar ist und Freuds Ratlosigkeit evozierte. Überall wird jedoch unterstellt, es ließen sich strikte Grenzen zwischen dem ziehen, was als „Sinnlichkeit“ angeeignet und als „tierischer Lärm“ verfemt wird. Liest man allerdings Aristoteles, so vermerkt Derrida in seinem Essay über die Weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, dann verlaufe bereits bei ihm die Grenze gar „nicht zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen. Eine andere Aufteilung durchzieht die Gesamtheit der ‚menschlichen’ Sprache. Die Sprache ist nicht homogen, sie ist nicht in all ihren Aspekten und im gleichen Ausmaß menschlich.“ (10) Denn – und daran erinnert Derrida – auch Aristoteles registriert eine Vielfalt asemischer stimmlicher Aussendungen, etwa die Silbe, die ohne Bedeutung bleibt, aber zweifellos zur Lexis gehört: lautliche Elemente also, die keine Bedeutung übertragen und insofern dem bloßen Lärm der Alogía nahestehen oder gar angehören. So sehr die nicht-menschlichen Aspekte der Sprache also aus einem Feld der Bedeutung ausgeschlossen werden müssen, um im Sich-Vernehmen der Stimme die Immanenz des lógos zu sichern, so wenig kann dieser seiner nichtmenschlichen Sprachaspekte entraten. Er teilt sich in ihr, er differiert. Jeder Ausschluss dieser Differenz, jede Unterwerfung des Lärms aus der Sprache verwüstet die Sprache im Innersten. Um den Lärm zu kontrollieren und seinem Insistieren den Makel eines Mangels einzutragen, dieses Ressentiment der Macht, springt der tópos des Tierischen immer ein wie der Platzhalter einer Unterwerfung, die sie in Szene setzt. Nachträglich wie jedes Alibi, exkommuniziert sie an die Animalität, wovon die Stimme als Differenz ihrer selbst immer schon durchquert worden war. Denn tatsächlich, Lärm ist es, den sie macht, um Stimme zu sein.
Wo dieser Aufruhr einsetzt, da deshalb nicht als beschwörerische Suche nach einem „animalischen Ursprung“, der verlorengegangen, als ein Ganzes, Ungeteiltes irgendwann zum Zerspringen gebracht worden wäre. Er ist ein Ur-Sprung im Wortsinn. Er ist ein Sprung, der den Anfang selbst einsetzt. Das Anfangen wiederholt sein Springen und Einspringen, ohne je Ursprungssubstanz und Linearität gewesen zu sein. Umso unabweisbarer kehrt es im Geräusch, im Lärm, im Schrei wieder. Es bleibt als Vergessenes unvergesslich und bringt jede gesetzte Bedeutung, jede gefügte Ordnung durcheinander. Verwirrende Wiederkehr des Gleichen also, doch Wiederkehr einer Singularität als der Anderen, die unausgesetzt im Kommen war. Nie adressiert sich dieses unvergesslich Vergessene einer Wiederkehr deshalb an eine Allgemeinheit. Stets ist es einzig. Und um hier ein solches Geräusch zu machen oder einen Lärm zuzulassen, der wie aller Lärm im Kontext meiner Rede ohne allgemein kommunizierbare Bedeutung bleiben wird, weil er sich singulär adressiert, meine Stimme jedoch in jedem Anfang öffnet und stammeln lässt, erinnere ich mich einer New-Wave-Rockgruppe namens Ultravox. Sie faszinierte mich vor dreißig Jahren schon deshalb, weil ihr Name ein animalisches, ein exzessives Jenseits der Stimme anzukündigen schien, eine Stimmung über jede Stimme hinaus, den Verlust ihres Anfangs als dessen unausgesetzte Wiederkehr. Wie es in The Voice über diese Stimme eines anderen Eros deshalb hieß, sich selbst entzogen und deshalb außer sich insistierend:
I’ve lost it once before
Now it cries to me.
Ich habe sie schon vor dem Einmal verloren
Nun schreit sie zu mir.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
© bei dem Autoren
(1) Aristoteles: Politik, in: ders.: Schriften 4, Hamburg: Meiner 1995, 1252 5-19, S.4f.
(2) Aristoteles, ebd., 1254 b 15-25, S.10.
(3) Aristoteles, ebd., 1260 a 5, S.28.
(4) vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
(5) Jacques Ranciere, ebd., S.62.
(6) Jacques Ranciere: ebd., S.64.
(7) Jacques Ranciere: Das Unvernehmen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S.64.
(8) Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: de Gruyter 1967, S.141f.
(9) Jean-Luc Nancy: Zum Gehör, Berlin: diaphanes 2014, S.41.
(10) Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S.259.