Vortrag \ Nina Power – Noise, Capitalism, Gender

NOISEXISTANCE II 2018

Nina PowerNoise, Capitalism, Gender

Vortrag am 03.03.2018 auf Kampnagel, Hamburg

Nina Power lehrt Philosophie an der University of Roehampton in London. Neben Subjektphilosophie, Marxismus, Feminismus und Queer Theory liegt ihr Forschungsschwerpunkt auch auf der Musikphilosophie. Sie ist Mitbegründerin der Initiative Defend the Right to Protest. 2009 veröffentlichte sie den Essay Women Machines: The Future of Female Noise, in deutscher Übersetzung ist ihr Buch Die eindimensionale Frau im Merve Verlag erhältlich. In ihrem auf dem zweiten NOISEXISTANCE Festival 2018 gehaltenem Vortrag Noise, Capitalism, Gender spürt sie den Verbindungen zwischen männlichen und weiblichen Stimmen, Autorität und intimen Technologien, dem Alltäglichen und dem Ausnahmezustand nach.

Ich interessiere mich für die Beziehung zwischen Noise (speziell die Hintergrundgeräusche der Stadt), Gender und Kapitalismus. Wie affiziert die Art und Weise, in der Noise gegendert wird, unser Denken sowohl des Kapitalismus als auch der Drohung des Ausnahmezustands – jener Ausnahmezustand, der zentral ist für die Versuche kapitalistischer Staaten, ihre Bevölkerung zu kontrollieren? Gegen Ende des Vortrags möchte ich über Lärm in Extremsituationen sprechen und wie wir die Stimme benutzen, um ein Bild der Ruhe angesichts des Furchterregenden und Apokalyptischen zu präsentieren. In diesem Sinne behandelt der Vortrag weniger das Verhältnis von Noise und Musik, noch das von Noise und Information (obwohl gerade in diesem Feld aktuell sehr interessante Arbeit geleistet wird). Zum Beispiel hat Cecile Malaspina, die bald das Buch An Epistemology of Noise veröffentlichen wird, in dem kürzlich erschienenen Text Epistemic Noise folgendes geschrieben:

„Was ist Noise heutzutage für uns, wenn nicht eine Umweltbelastung, ein akustisches Erbe der Industrialisierung, der rohe Hintergrund zu unserem Zeitalter der Hochgeschwindigkeitskommunikation und hochauflösenden Signalübertragung? Wenn wir Noise auf eine quantitative Definition von Dezibel und Frequenzen reduzieren, wie es die Weltgesundheitsorganisation tut, dann ist Noise nicht mehr als das akustische Pedant zu Entropie, dem Abfall der Industrialisierung, der darauf wartet, durch verbesserte Technik und Stadtplanung entsorgt zu werden. Bereits die Definition von Noise als industriellem Nebeneffekt reduziert das breite Spektrum der vorwissenschaftlichen Bedeutung von Noise auf bloße Lautstärke – das ehemals den Lärm von spielenden Kindern ebenso umfasste wie das ohrenbetäubende Beben eines Vulkanausbruchs. Diese reduzierte Quantifizierung von Noise bleibt jedoch blind, nicht nur gegenüber dem kulturellen und metaphorischen Begriffsspektrum von Noise, sondern auch gegenüber seiner modernen Formalisierung in der Informationstheorie.“

Soviel zu Malaspina. Wofür ich mich interessiere, ist der uns umgebende, uns begegnende Kapitalismus, eine Art von akustischem Kapitalismus. Der Sound und der Lärm des Kapitalismus. In dem Sammelband Noise & Capitalism von 2009 hat Anthony Iles darauf hingewiesen, dass [Zitat] „da wir nicht davon ausgehen können, dass Noise oder Improvisation automatisch antikapitalistische Musik sind, wir die in ihnen enthaltenen Spannungen und Widerstände näher untersuchen müssen – wo versorgen sie den Kapitalismus potentiell mit Werkzeugen, wo stellen sie Mittel bereit, mit denen man ihn verlassen kann.“

Ich möchte diesen Gedanken dahingehend erweitern, darüber nachzudenken, welche Rolle er bei nebensächlichen Geräuschen spielen kann: Der Lärm der Stadt, vor allem in Relation zu den vielen menschlichen und anderen Stimmen die wir hören, während wir uns zwischen Verkehrsknotenpunkten und Supermärkten bewegen und beiläufig Autoradios oder den Stimmen wirklicher Leute lauschen.

All dies wirft die Frage nach der dialektischen Beziehung zwischen Sprecher und Zuhörer auf. Brandon LaBelles aktuelle Arbeit Sonic Agency: Sound and Emergent Forms of Resistance versucht eine Politik des Zuhörens zu schaffen, wobei er hervorhebt, dass der öffentliche Raum für gewöhnlich in Beziehungen des Sichtbaren vorgestellt und verstanden wird und nicht in Relation zum Klanglichen. Sound ermöglicht uns darüber nachzudenken, wer und was ungesehen bleibt und scheint, oberflächlich betrachtet, ein radikaleres, wenn auch schwieriger zu verstehendes, Konzept davon zu vermitteln, wie aufständische Politik aussehen (oder besser: klingen) könnte. Ausgehend von den Arbeiten Kate Laceys schlägt LaBelle vor, dass während „die Freiheit der Rede häufig als Rahmenordnung der Kritik dargelegt wird“, es eigentlich das Hören sei, dem „eine aktive, empfängliche Haltung innewohnt.“ Aber ich möchte behaupten, dass zuhören nicht direkt als progressiv oder auf der Seite des Guten verstanden werden kann.

Ich möchte also fragen: Wer Spricht? Wer hört zu? In dem 2012 erschienenen Artikel ‚Warum wir männliche Stimmen (sogar bei Frauen) bevorzugen‘ berichtet Megan Garber, dass „Studie für Studie gezeigt hat, dass tiefe, ‚maskuline‘ Stimmen ein Vorteil für diejenigen sind, die Führungspositionen in der Politik oder anderswo anstreben.“ Maskuline Stimmen werden immer wieder als attraktiv, kompetent und vertrauenswürdig angesehen. Frauen, die in tieferen Tonlagen sprechen, werden nach dieser Tendenz ebenfalls positiver bewertet, wobei sie aber unterhalb einer bestimmten Schwelle als physisch weniger attraktiv wahrgenommen werden.

Was hat es mit diesen ‚maskulinen‘ Stimmen auf sich, dass sie uns zum Zuhören bringen, ohne Bezug dazu, wie unsere eigenen Stimmen klingen? Ist es uns eingeprägt, tiefe Tonlagen mit Autorität zu assoziieren? Warum sollten wir diese Assoziation von Autorität mit Tiefe und Kompetenz akzeptieren? Warum sollten wir denen mit ‚maskulinen‘ Stimmen zuhören und diejenigen ignorieren, die in hohen Tonlagen sprechen? Hinter den sonderbaren Bildern und Assoziationen von Geschäft und Dominanz liegt ein anderes Bild, das Derjenigen, der am wenigsten zugehört wird: Das junge Mädchen mit hoher Stimme, das genaue Gegenteil von ‚Autorität‘, ‚Geschäft‘ oder ‚Kompetenz‘. Überlegenheit hängt von der hierarchischen Gegenüberstellung von Männern gegen Frauen, tiefer Stimmen gegen hohe Stimmen, Alter gegen Jugend ab – und hier stößt der Rahmen des Klanglichen mit dem Bereich des Visuellen zusammen, wo das Bild des ‚jungen Mädchens‘ dominant ist, das reale Mädchen aber ohne wirkliche Macht ist. Aber könnte die Stimme des jungen Mädchens zu einem Ort des Widerstands werden?

In einem aktuellen Artikel mit dem Titel ‚Furcht vor der weiblichen Stimme‘ hat Sarah Gailey gezeigt, dass „die westlichen Gesellschaften für Jahrhunderte darauf insistiert haben, dass weibliche Stimmen – nur das, unsere Stimmen – eine Bedrohung sind. Wir fürchten uns vor Wölfen, wir fürchten uns vor Bären und wir fürchten uns vor Frauen.“ Eine Schwierigkeit bei dieser Behauptung ist, dass Frauen und Mädchen selten beigebracht wird, ihre Stimmen könnten eine ‚Bedrohung‘ sein. Viel eher lernen wir, uns bedroht zu fühlen und häufig mit gutem Grund. Aber, genau wegen dieser paradoxen Furcht, wird uns beigebracht unsere Stimmen dafür zu benutzen anderen das Leben leichter zu machen, vor allem Männern. Die Parameter für die Bandbreite der weiblichen Stimme sind bemerkenswert eng, hochgradig abhängig von Klasse und Rasse. Frauen sollten Gespräche nicht dominieren (und die Leute neigen dazu, die Redezeit von Frauen unbändig zu überschätzen. Forschungen zeigen, dass Männer in gemischtgeschlechtlichen Gruppen 70% der Zeit sprechen. Dale Spenders Arbeit zeigt, dass Männer denken, Frauen würden Gespräche ‚dominieren‘, wenn sie 30% der Zeit sprechen und dass Redezeit als ‚gleich verteilt‘ angesehen wird, wenn sie nur 15% eines Gesprächs reden). Frauen sollten nicht rufen, kritisieren, schreien, fordern oder zu viel lachen (und niemals über Männer). Stereotype überwiegen – die überlaute Frau aus der Arbeiterklasse, die ‚wütende schwarze Frau‘, die verrückte Frau, die hysterische Frau, die weinerliche Frau, die Nörglerin, die Widerspenstige, die Hexe, die Männer mit ihrer Stimme kontrollieren kann, die Verführerin etc. Michelle Obama wurde sowohl dafür kritisiert, ‚wie ein weißes Mädchen zu sprechen‘, als auch dafür, ‚zu laut, zu wütend oder gar entmannend zu sein‘.

Obwohl wir in einer hoch visuellen Kultur leben, wird die Stimme dennoch zu einer obskuren Seite der Politik – wenn wir über ‚die Stimme‘ der Leute sprechen, eine Stimme zu haben, keine zu haben und so weiter. Adriana Cavareros Arbeit in For More Than One Voice zeigt auf, dass: „Die Bedingung der menschlichen Einzigartigkeit im Register der Stimme widerklingt. Zudem zeigt die Stimme, dass dieser Zustand wesentlich relational ist. Die simple Wahrheit des Stimmlichen, verkündet von Stimmen ohne die Vermittlung artikulierter Sprache, kommuniziert die elementaren Gegebenheiten der Existenz: Singularität, Relationalität, Geschlechterdifferenz und Alter.“

Stimme ist das, was uns herausstellt, aber zur gleichen Zeit wird ganzen Schwaden von Stimmen auf der Basis ihrer einzigartigen Merkmale nicht zugehört. Die Stimmen von Frauen wurden in der Öffentlichkeit lange Zeit als ‚zu viel‘ oder ’nicht genug‘ positioniert. Anne Karpfs Arbeit über die menschliche Stimme merkt an, dass: „der Glaube an die Unangemessenheit der weiblichen Stimme für Durchsagen in den frühen Tagen des Radios sowohl in den USA als auch Großbritannien begann. Dem britischen Daily Express von 1928 zufolge behaupteten viele abgehärtete Zuhörer, dass Adam eine natürlichere Rundfunkstimme habe als Eva. Manche Hörer gingen so weit zu sagen, dass eine Frauenstimme nach einer Weile monoton würde, dass ihre hohen Töne scharf seien und an das Feilen von Stahl erinnern würden, während ihre tiefen Töne häufig wie Stöhnen klängen…“ Das weibliche Timbre wurde für eine besondere Schmähung ausgesondert. „Ein Berichterstatter des Londoner Evening Standard deutete an, dass schrille Frauenstimmen viele Hörer irritieren würden und dass sie zu schnell sprechen würden, unwichtige Worte überbetonten, oder versuchen würden, Hörer durch schönes Sprechen zu beeindrucken. Hohe Stimmen wurden mit Sittsamkeit assoziiert und tiefe mit Sexualität, so dass – in einer Zwickmühle – die Stimme, die der Anschuldigung der Promiskuität entging, nicht als autoritativ genug für den Rundfunk angesehen wurde.“

Diese Kritik der weiblichen Stimme hat nicht aufgehört. Hillary Clintons Stimme wurde als ‚Eispickel im Gehörgang‘ beschrieben und beschuldigt, ‚Engel zum Weinen zu bringen‘. Trump machte sich bei einer Wahlkampfveranstaltung über ihre ‚Roboterstimme‘ lustig.

Ein Aspekt der Relation zwischen Geschlecht und Stimme, der mich über die Jahre am meisten fasziniert hat, ist die Beziehung zwischen dem, was aufgezeichnet werden kann und was nicht – das heißt, wer kann die Stimme des Notfalls werden. Offensichtlich gibt es aufgezeichnete Sicherheitsalarme und Durchsagen – wie die ‚Inspector Sands‘-Durchsage, ein codierter Alarmruf, der in Großbritannien vor Feuern in Bahnhöfen warnt. Aber was mich wirklich interessiert, sind die Bekanntmachungen des Endes der Welt, die apokalyptischen Durchsagen. Das War Book, das während des Kalten Kriegs entwickelt wurde, legt dar, was die BBC im Fall eines ’nuklearen Schlagabtauschs‘ tun würde. Die Rundfunksprecher würden sich zu elf über Großbritannien verstreuten Hochsicherheitsbunkern bewegen, die ‚zurückgesetzte Einrichtungen‘ genannt wurden und in denen auch Regierungsmitarbeiter und Minister untergebracht werden würden. Eine Aufzeichnung der Bekanntgabe eines Krieges (die ‚Vier Minuten Warnung‘, so genannt wegen der angenommenen Zeitspanne in der ein sowjetischer Raketenschlag gegen das Vereinigte Königreich bestätigt werden könnte) wurde von dem Radio Four Nachrichtensprecher Peter Donaldson eingesprochen. Der Wortlaut: „Dies ist der Rundfunkdienst in Kriegszeiten. Dieses Land wurde mit Nuklearwaffen angegriffen. Das Fernmeldewesen wurde schwer beschädigt und die Anzahl der Opfer und das Ausmaß des Schadens sind zur Zeit unbekannt. Wir werden ihnen so bald wie möglich weitere Informationen bringen. In der Zwischenzeit, bleiben sie auf dieser Wellenlänge, bleiben sie ruhig und verlassen ihre Häuser nicht.“

Es war klar, dass diese Stimme bekannt und beruhigend sein musste. Wie Harold Greenwood vom Ministerium für Post und Telekommunikation in einem Brief von 1974 schrieb: „eine ‚unbekannte Stimme‘ könnte die Hörer dazu bringen anzunehmen, dass vielleicht die gesamte BBC ausgelöscht sein könnte.“

Der Rundfunkdienst zu Kriegszeiten wurde 1992 außer Dienst gestellt und es ist nicht klar, durch was genau er ersetzt wurde. In einem Artikel mit dem Titel ‚Die Verwendung von männlichen oder weiblichen Stimmen in Warnsystemen: Eine Frage der Akustik‘, in dem exzellenten Magazin Noise and Health von Edworthy, Hellier und Rivers 2003 veröffentlicht, schreiben die Autoren: „Sprachwarnungen und Kommunikationssysteme werden zunehmend in geräuschvollen Umgebungen mit intensivem Arbeitsaufkommen eingesetzt. Eine wichtige Entscheidung in der Entwicklung solcher Systeme ist die Wahl von männlichen Sprechern oder weiblichen Sprecherinnen.“ Der Text macht weiter geltend, dass trotz der Missverständnisse zum Thema „die Wahl der Sprecher von den Überschneidungen zwischen Geräuschen und Stimmspektrum abhängen sollte.“ „Weibliche Stimmen“, so wird fortgefahren, „scheinen einen Vorteil darin zu haben, dass sie eine größere Bandbreite von Dringlichkeiten durch ihre Stimmhöhe und ihren weiteren Stimmumfang darstellen können.“

Clifford Nass, der Autor von Wired for Speech, weist darauf hin, dass Leute dazu tendieren, weibliche Stimmen so zu interpretieren, dass sie uns dabei helfen Probleme selbstständig zu lösen, während männliche Stimmen als Autoritäten wahrgenommen werden, die uns sagen was zu tun ist. In diesem Sinne verschwindet die weibliche Stimme, wir haben das Problem selbst gelöst, indem wir uns an Siri oder eine andere dieser körperlosen Frauen gewandt haben.

Dieses Jahr hat Ikea 12.000 Leute dazu befragt, ob ihre AI überhaupt ein Geschlecht haben sollte. 44% würden es vorziehen, wenn sie neutral wäre, jedoch teilt sich diese Zahl in 36% der Männer und 62% der Frauen auf. Sind Frauen des sexistischen Kontinuums von Siri mit seinen Vorstellungen von der weiblichen Sekretärin und weiblicher Servilität überdrüssig?

Ich möchte damit schließen, mich ein wenig von diesen intimen Technologien zu entfernen und darüber nachdenken, wie Stimmen uns im urbanen Raum ständig dominieren – was ich an einem anderen Ort als eine Art sanften Zwang beschrieben habe, der uns nicht auf autoritäre Art sagt, dorthin zu gehen oder jenes zu tun. Sanfter Zwang führt zu einer sehr ausgesprochenen Form von neoliberaler Kontrolle und die weibliche Stimme wird als eine Art Ablenkung verwendet, weil sie sich nicht auf der Ebene der politischen Repräsentation abbilden lässt – die Idee der Stimme als politischer Kraft. Wir haben eine extrem ungleiche politische Repräsentation der Geschlechter. Es sind nur die Verkehrsknoten und Supermärkte, in denen die Stimmen von Frauen dominieren. Diese Tendenzen werfen viele Fragen auf: Was geschieht mit den Stimmen in der Stadt, wenn wir unsere eigenen nicht mehr benutzen? Wenn wir von Stimmen umgeben sind, die uns keine Wahl lassen sie zu hören – in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Lautsprecheranlagen, in Supermärkten… welcher Raum bleibt für unsere eigenen Stimmen und Geräusche in der Welt?

Übersetzung aus dem Englischen: David Wallraf
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